Ständig habe ich Konflikte mit meinem Vater, und das macht mich traurig. Er hat mich alleine erzogen, und ich habe eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihm. Wenn ich mit ihm spreche, reagiere ich aber so, dass er sich kritisiert fühlt, obwohl ich weiss, dass er es gut meint. Und trotzdem kommt vieles, was ich sage, nicht so an, wie ich es meine. Wenn er mich zum Beispiel bittet, eine Jacke mitzunehmen, dann werde ich laut, er fühlt sich angegriffen, und wir haben Streit. Dabei will ich das gar nicht! Ich möchte meinen Vater nicht traurig machen. Und trotzdem mache ich es immer wieder. Melanie, 19

Liebe Melanie Sie machen sich viele Gedanken darüber, wie es Ihrem Vater gehen könnte, und zeigen ein hohes Einfühlungsvermögen. Niemand mag Streit – und schon gar nicht mit jemandem, den man gern hat. Aber Sie haben die falsche Strategie. Sie denken zu viel daran, was Ihr Vater wollen könnte, und vergessen dabei sich selbst. Wenn wir richtig wahrgenommen werden möchten, müssen wir dafür sorgen, dass wir unserem Gegenüber Einblick in unsere Gedanken geben. Die sind wichtig und haben ihre Berechtigung! Mir scheint es, als ob Sie diese unterdrückt halten. Sie legen den Deckel auf den Kochtopf, obwohl es bereits sprudelt und kocht. Und plötzlich gibt es einen Überdruck, und das Ventil zischt so heftig, dass alle erschrecken. Ihr Vater ist dann vor den Kopf gestossen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie mehr auf Ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle – das Sprudeln im Kochtopf – achten. Was fühlen Sie, was denken Sie, wenn Ihr Vater Sie bittet, die Jacke mitzunehmen? Könnte es sein, dass es Sie nervt, dass er Ihnen vorschreiben möchte, was Sie anziehen sollen? Fühlen Sie sich bevormundet, weil Sie doch erwachsen sind und Ihre Kleidungswahl selbst treffen möchten? Versuchen Sie, mehr in sich hineinzuhören und Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Diese teilen Sie dann mit: «Papa, du meinst es bestimmt gut. Aber ich bin erwachsen und weiss selbst, welche Jacke ich anziehen kann.» Mit Ich-Botschaften geben Sie dem anderen die Chance, Sie besser zu verstehen.
© Text: Christine Hefti © Foto: Wix